Der letzte Wahltag in Berlin war ein absolutes Chaos, besonders die Briefwahl. Jetzt könnte eine Neuwahl in sechs Wahlkreisen und weiteren Wahllokalen die Zusammensetzung des Bundestages verändern. Sogar ein kompletter Rauswurf der Linken wäre möglich. Doch die etablierte Politik versucht die Entscheidung zu verschleppen, zu minimieren und abzuwehren. Dabei hilft den Bundestagabgeordneten auf Abruf, dass die Entscheidung über den möglichen Verlust ihrer Bundestagsmandate im Bundestag selbst fällt. Wir erklären, worum es geht, und decken die Tricks auf.
Typisch Berlin
Als am 26. September 2021 neben der Bundestagswahl auch die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, die Wahl der Bezirksverordnetenversammlungen und die Abstimmung über das Volksbegehren der Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ stattfand, versank die Stadt Berlin in einem eigentlich unverzeihlichen Chaos. Wir und viele andere haben ausführlich darüber berichtet. Der Bundeswahlleiter Georg Thiel nannte es ein „komplettes systematisches Versagen der Wahlorganisation“.
Unserer Helfer der Wahlbeobachtungskampagne, die im „Ein Prozent“-Wahlbüro Telefondienst hatten, erinnern sich an jenen Tag: Zu abgedreht, zu irre klangen die Meldungen von Wahlbeobachtern und Wählern vor Ort, die in ihrer Not unsere Nummer gewählt hatten. In unserer Zentrale glaubte man noch an einen schlechten Scherz – doch stellte sich jede Meldung der Freiwilligen als korrekt heraus. Es war – typisch Berlin! – ein Chaos mit Ansage. Unser ohnehin stark reformbedürftiges Wahlsystem wurde durch die Berliner Unfähigkeit in die Knie gezwungen.
Entscheidend ist, dass es nun in sechs Wahlkreisen zu Neuwahlen kommen soll und nicht nur in wenigen Wahllokalen, in denen der Komplettzusammenbruch des Wahlsystems ausreichend dokumentiert wurde.
Ein Problem ist, dass auch EU-Ausländer und 16- und 17-Jährige bei der Bundestagswahl mitgewählt haben, obwohl diese Gruppen nur bei der Kommunalwahl hätten abstimmen dürfen. Man hatte versäumt, das Alter genau zu prüfen und die Wahlhelfer zu schulen. So wurden auch Stimmzettel für die Bundestagswahl ausgegeben und am Ende konnte man mehr Stimmzettel in den Wahlurnen zählen als stimmberechtigte Wähler in den Wahllokalen waren.
Bei der Briefwahl wurden 82.668 Stimmzettel nicht genutzt. Dies lag u.a. daran, dass das örtliche Zustellungsunternehmen versagte und die Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig bei den Wählern und in Folge auch nicht in den Wahlurnen waren.
Eine mögliche Neuwahl könnte zwei wichtige Effekte haben: Die Linke könnte aus dem Parlament fliegen und fast alle Parteien könnten Mandate im Bundestag verlieren.
Warum Rechte in Berlin bald voller Überzeugung SPD wählen!
Die Linke ist bei der Bundestagswahl knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Sie sitzt dennoch mit 39 Mandaten im Bundestag, weil die Partei bundesweit drei Direktmandate erobern konnte. Zwei in Berlin und eins in Leipzig – in Leipzig übrigens nur mit einem Trick. Der Wahlkreis Berlin-Lichtenberg ist nun einer derer, in dem teilweise neu gewählt werden müsste.
In Lichtenberg beansprucht bisher Gesine Lötzsch mit 25,8 Prozent das Direktmandat für die Linke. Die zweitplatzierte SPD-Kandidatin holte 19,6 Prozent der Stimmen. Angesichts der belegten Ungereimtheiten in diesem Wahlkreis und den Problemen bei der Briefwahl ein durchaus knappes Ergebnis. Sollte Lötzsch bei der Neuwahl das Direktmandat verlieren, würde die Linke alle 37 Listenmandate verlieren und bis auf die zwei Direktmandate aus dem Parlament fliegen. Abgeordnete und Mitarbeiter wären auf einen Schlag arbeitslos und die Linke wäre von vielen Geldern und Posten abgeschnitten.
So könnte es sein, dass man als taktischer Wähler in Lichtenberg folgendes überlegen sollte: Wähle ich lieber den in den Umfragen zweitplatzierten Kandidaten einer anderen Partei, egal ob SPD, Grüne oder CDU, um so dafür zu sorgen, dass den Linken im Bundestag nur die zwei Direktmandate bleiben? Es wäre das erste Mal, dass man SPD und Grünen wählen kann und seinem Land etwas Gutes tut. Doch das wäre nicht der einzige positive Effekt.
Der Bundestag könnte sich verkleinern – fast alle Parteien verlieren Mandate
Durch den Rauswurf der Linken würden deren 4,9 Prozent der Wählerstimmen nicht mehr gewertet werden. Die anderen Parteien erhielten dann mehr reguläre Mandate. Das würde bedeuten, dass weniger Überhangmandate nötig werden, weil CDU, CSU und SPD regulär mit Mandaten bedient werden könnten. Deswegen wären auch weniger Ausgleichsmandate notwendig, um den Stimmanteil der Parteien nach Zweitstimmen korrekt abzubilden. Aktuell gibt es 34 Übergangmandate und unglaubliche 104 Ausgleichsmandate. Der Bundestag, dessen Größe eigentlich auf 598 Abgeordnete angelegt ist, besteht aktuell aus 736 Abgeordneten.
Die Neuwahl in Berlin und ein Ausscheiden der Linken könnte das ändern. Aber nicht nur die Berliner Abgeordneten müssten um ihr Mandat bangen, sondern auch andere Abgeordnete, die über ein Ausgleichsmandat in den Bundestag eingezogen sind.
Deswegen wird die konsequente Neuwahl der Wahlkreise und der betroffenen Wahllokale, wie sie der Bundeswahlleiter fordert, wohl nicht kommen, denn die Parteien werden sich nicht selbst schaden wollen.
Kaputtes System: Der Bundestag entscheidet über den Bundestag
Nicht nur unser Wahlsystem ist ein schlechter Witz, sondern fast alles, was mit den Wahlen in der Bundesrepublik zusammenhängt. Aktuell entscheidet der Bundestag darüber, ob man der Empfehlung des Wahlprüfungsausschuss folgt. Doch auch der Wahlprüfungsausschuss für die Bundestagswahl ist nicht unabhängig und besteht aus Mitgliedern des Bundestags.
Pikant: Eines der Mitglieder des Ausschusses würde nach Berechnungen des Bundeswahlleiters sein Mandat verlieren. Der Business Insider nennt die Namen der Abgeordneten, die möglicherweise ihre Posten räumen müssten. Kandidaten aus anderen Bundesländern würde ihre Mandate erhalten oder sie würden komplett entfallen.
Experten fordern schon lange, dass die Wahlprüfung in die Hände des Bundesverfassungsgerichts gelegt werden muss. Der Berliner Fall zeigt ganz deutlich, dass der Bundestag der falsche Platz für diese grundlegende demokratische Entscheidung ist.
Im Wahlausschuss des Bundestages sollen Parteifunktionäre darüber entscheiden, ob ihrer Partei Gelder, Mandate und Mitarbeiterstellen genommen werden. Man wird wohl allerhand „gute Gründe“ finden, um dieses Risiko in Berlin nicht eingehen zu müssen.
Die Tricks unserer Volksvertreter
Laut Spiegel kursiert unter den betroffenen Bundestagsabgeordneten schon die Möglichkeit, dass man das Bundesverfassungsgericht anrufen könnte, um die Entscheidung von Ausschuss und Bundestag überprüfen zu lassen. Dabei setzte man nicht auf eine inhaltliche Entscheidung, sondern spielt bewusst auf Zeit. Denn ein Verfahren könnte künstlich in die Länge gezogen werden, um ein Urteil erst gegen Ende oder nach Ablauf der jetzigen Legislatur zu ermöglichen.
Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, das leidige Thema vom Tisch zu kriegen. Anders als vom Bundeswahlleiter gefordert, könnte man nur in den fast 300 (!) Wahllokalen, in denen massive Fehler dokumentiert wurden, neuwählen lassen. Sehr wahrscheinlich wird dort die Wahlbeteiligung gegen null sinken und das Ergebnis dann auch keinen großen Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestags haben. Zudem lässt die Probleme bei der Briefwahl größtenteils unter den Tisch fallen und hofft, das Berlin-Thema schnell zu beenden.
Der Wahlausschuss könnte auch ganz stumpf und gegen die hier präsentierten Fakten empfehlen, dass eine Neuwahl keine großen Veränderungen zur Folge haben würde und man den Aufwand daher vermeiden will.
Wie es kommt, werden wir nach der Sommerpause erfahren. Dann will der Wahlprüfungsausschuss seine Entscheidung treffen.
Wie hilft uns der Berliner Fall?
Neben der Option, die Linken aus dem Bundestag zu schmeißen und den Bundestag zu verkleinern, ist die Berlinwahl die perfekte Motivation für alle Wahlbeobachter und Wahlhelfer und alle, die wir noch überzeugen wollen.
Es zeigt sich wieder, Wählerstimmen werden nicht hinterher in Gremien gerettet, sondern am Wahltag. Auch der lesenswerte Fall aus Dresden zeigt, dass wir uns auf die von den etablierten Parteien korrumpierten Institutionen nicht mehr verlassen können. Wenn wir faire, gerechte und demokratische Wahlen haben wollen, dann müssen wir selbst aktiv werden, ob nun als Kandidat, Wahlkämpfer, Wahlhelfer oder Wahlbeobachter.
Das System ist kaputt. Sorgen wir selbst dafür, dass die demokratischen Versprechungen dieser Republik auch eingehalten werden.