Die andauernde Regierungskrise und die massiven Proteste in Frankreich werden von den deutschen Medien wenig beachtet. Die Macron-Regierung drückt gegen den Willen der Bürger immer wieder Gesetzte durch – ein Phänomen, das wir auch aus Deutschland kennen. Im Gegensatz zu den Medien blickt die Bundesregierung intensiv gen Frankreich. So war die Situation im Nachbarland während des letzten Ampel-Krisentreffens immer wieder Thema. „Angst vor den Gelbwesten“, beschrieb etwa der Spiegel die Situation. Der sogenannte Wutwinter hat konnte in Deutschland mit teuren Subventionen kleingehalten werden. Doch auf Dauer wird man sich das nicht leisten können. Deswegen geht der neugierige Blick nach Paris. Hier kann man lernen, wie Politik auch gegen den Willen des Volkes durchgedrückt werden kann.
Um die Situation einzuordnen, haben wir dem Politikwissenschaftler Benedikt Kaiser drei Fragen zur Lage in Frankreich gestellt.
„Ein Prozent“: Der Spiegel bezeichnete die aktuelle Situation in Frankreich als schwerste politische Krise seit Ende des Algerienkriegs. Wie schätzen Sie die Lage ein und geht es wirklich nur um eine Rentenreform?
Kaiser: Emmanuel Macron hat durch seine Rentenreform am Parlament vorbei das geschürt, was man in Frankreich als „colère sociale“ bezeichnet. Diese typisch französische Form „sozialer Wut“ oder auch „sozialen Zorns“ kennen wir noch aus der Zeit der sogenannten Gelbwesten (2018/2019).
Der sichtbare, wütende und bewegende Protest als Signal kollektiver Selbstermächtigung gegen ein volksfernes, selbstreferentielles Establishment hat Tradition bei unseren Nachbarn. Es bedarf in Frankreich oftmals „nur“ äußerlicher Anlässe – Spritpreiserhöhung oder nun Erhöhung des Renteneintrittsalters – und der Zorn, der in Teilen des Volkes schlummert, wird entfacht. Dieser entlädt sich dann in Massendemonstrationen, die für deutsche Beobachter vollkommen fremd sind: Vollkommen fremd hinsichtlich der Teilnehmerzahl, der sozialen und kulturellen Verschiedenheit der Demonstranten, der Intensität des Protests und zum Teil auch der kollektiven Militanz.
Es geht also bei dem Phänomen aktueller Volksproteste beileibe nicht nur um das neofeudale Verhalten des Präsidenten Macron hinsichtlich der Rentenkürzungen (um solche handelt es sich ja de facto!) – es geht um den rumorenden Zorn der Volksklassen, also der unteren und mittleren Schichten, angesichts einer jahrzehntelangen Politik der Deklassierung, eines durchaus erfolgreich betriebenen Klassenkampfs von oben.
Louis Chauvel, ein französischer Soziologe, warnte vor Jahren bereits vor der konstanten „Abwärtsspirale der Gesellschaftsklassen“, und Francois Bousquet, ein französischer Journalist der „Nouvelle Droite“, ergänzte Chauvels These: „Das soziale Abrutschen ist die soziale Tatsache der letzten dreißig Jahre. Nennen wir es das Verschwinden der Mittelschicht in unseren Gesellschaften.“ Das vollzieht sich in Deutschland wie in Frankreich. Doch während man in Deutschland das vermeintlich Unvermeidliche höchstens verbal kritisiert und in der Praxis überwiegend untätig bleibt, sorgt das in Frankreich eben für Empörung, für Aufwallung, für Proteste – für sozialen Zorn!
„Ein Prozent“: Die Regierungen in Frankreich und Deutschland sind über Regierungswechsel hinweg enge Partner. Zusammen geben Sie den Ton in der Europäischen Union an. Deswegen schaut man vom Kanzleramt aus besorgt nach Paris. Welche Auswirkungen könnten die französischen Massenproteste auch für die deutsche Politik haben?
Kaiser: Die Massenproteste haben kaum Eindruck auf den Block an der Macht in Deutschland hinterlassen. Vermutlich weiß man auch bei der „Ampel“ um die unterschiedlichen nationalen Protestkulturen, die unterschiedliche Folgen mit sich bringen. Der Protest der Franzosen war dem Thema und der Form nach ein explizit nationaler Protest: Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und damit die effektive Minderung der Rentenleistung ist nun mal ein genuin französisches politisches Thema gewesen.
Für uns in Deutschland, als Teil der volksverbundenen Opposition, kann dennoch eine Lehre gezogen werden: Wenn die Pläne der CDU/CSU, das Renteneintrittsalter in Deutschland noch weiter anzuheben – vergessen wir nicht, dass wir in der BRD länger arbeiten als sonst wo in der EU! – breitenwirksam diskutiert oder anderweitig von der „Ampel“ aufgegriffen werden, müssen wir zur Stelle sein und just das „colère sociale“ wecken, was wenigstens in Teilen der Deutschen vorhanden sein mag.
In der Phase einer Konvergenz der Krisen, in die wir hineingetreten sind, werden materielle bzw. soziale Fragen massiv an Bedeutung zunehmen. Inflation, Preissteigerung, klimaideologische Transformation (Stichwort „Wärmepumpen“!) und eben auch die Rentenfrage: Das sind alles knallharte ökonomische Herausforderungen für die Mehrheit des Volkes. Kaum ein Bürger kann sich noch vor diesen Problemen verstecken. Viele werden sich fragen müssen: Wie lange reichen die Reserven?
Politisch werden die Jahre ab 2023 daher eminent interessante Zeiten. Es gilt entsprechend geistig und politisch gerüstet zu sein für das, was kommen mag. Geschichte ist offen, nichts ist verloren.
„Ein Prozent“: Wie verhält sich die französische Rechte zu den Protesten und sehen Sie Ansatzpunkte, bei denen die deutsche Rechte von der breiten Protestbewegung in Frankreich lernen kann?
Kaiser: Das kann ich kürzer beantworten: Die außerparlamentarische Rechte, insbesondere die „Nouvelle Droite“ („Neue Rechte“), verfolgt den Protest mit großem Interesse und unterstützt die strömungsübergreifenden Demonstrationen. Mir ist keine gegenteilige Äußerung eines relevanten Protagonisten dieser Milieus bekannt.
Die parlamentarische Rechte ist ebenfalls zur Stelle, wobei der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Zemmour-Partei Reconquête! (R!) zu besitzen scheint: Als sozialpatriotische Kraft, die seit Jahren vor Rentensenkungen und materiellen Verlusten breiter Volksschichten warnt, hat sie bei dieser Thematik eine Art Glaubwürdigkeitssigel. Das ist für die – gleichwohl interessante und dynamische – Zemmour-Gruppe naturgemäß schwieriger. Sie ist wirtschaftlich unbefleckt, äußert sich fast ausnahmslos zu Remigration und Islamisierung. Beide Themen stehen derzeit aber nicht auf der Tagesordnung der Franzosen ganz oben.
Beide Rechtsparteien müssen jedenfalls ackern, ackern, ackern, was dieses weite Feld der Rentenpolitik angeht. Dort werden die Weichen für kommende Wahlen gestellt, und man darf den Anti-Macron-Protest nicht der vereinigten und zu neuer Kraft findenden Linken überlassen, die sehr rege und überaus präsent bei den Demos ist.
Neue Umfragen zeigen, dass drei Viertel der Franzosen unzufrieden mit Staatschef Macron sind. Das ist ein unglaublich großes Potenzial für oppositionelle Aufbauarbeit. Frankreich als „politisches Laboratorium Europas“ (Armin Mohler) bleibt also auch für uns Deutsche als Beobachtungsgegenstand spannender denn je!
„Ein Prozent“: Herr Kaiser, wir bedanken uns für das Gespräch.
Zur Person:
Benedikt Kaiser, geb. 1987, studierte im Hauptfach Politikwissenschaft (M.A.). Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und freier Publizist, hat den theoretischen Ansatz „Solidarischer Patriotismus“ ausgearbeitet und den praktischen Ansatz „Mosaikrechte“ eingeführt. Als Deutschlandkorrespondent französischer Magazine (éléments und Nouvelle École) steht er in intensivem Austausch mit Weggefährten in Frankreich. Sein neues Buch Die Konvergenz der Krisen erscheint demnächst im Dresdner Jungeuropa Verlag. Für „Ein Prozent“ ist er oft Gesprächspartner in der Lagebesprechung.